Zum Begriff des tätlichen Angriffs im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes

Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 28.10.2010 – L 10 VG 25/09

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der der erkennende Senat folgt, ist als tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei in aller Regel die Angriffshandlung den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 30. September 2009 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand
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Die Beteiligten streiten über Beschädigtenversorgung nach § 1 OEG in Verbindung mit den Vorschriften des BVG.

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Die 1958 geborene Klägerin betrieb bis zur Stellung eines Insolvenzantrages im Jahr 2001 in Thüringen ein Elektroinstallationsunternehmen. Ihren Hauptwohnsitz hatte sie zu dieser Zeit in Bayern, daneben eine Zweitwohnung in Sachsen-Anhalt.

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Im Mai 2005 beantragte die Klägerin bei dem Versorgungsamt Braunschweig, das den Antrag zuständigkeitshalber an den Beklagten weiterleitete, Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Hierzu machte sie geltend, in der Zeit von Oktober 2000 bis Januar 2001 von ihrem damaligen Mitarbeiter I. J. (geboren am K. 1943, gestorben am 11. Mai 2003) massiv erpresst, genötigt, belästigt, gestalkt und sexuell genötigt worden zu sein. Als Folge seien bei ihr seelische Beeinträchtigungen und eine schwere Depression aufgetreten. Der Beklagte zog schriftliche Aussagen des Ehemannes der Klägerin, L., ihrer Kinder M. und N. sowie ihrer ehemaligen Angestellten O. bei. Die Klägerin übersandte ein Attest der sie behandelnden Allgemeinmedizinerin P. vom 4. November 2002, wonach sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit depressiver Erschöpfung leide, sowie zahlreiche, teilweise an sie gerichtete Schreiben des I. J..

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Der Beklagte lehnte sodann den Antrag der Klägerin auf Beschädigtenversorgung mit Bescheid vom 5. September 2005 ab. In der Begründung führte er aus, dass ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG, d.h., ein gewaltsames Vorgehen gegen eine Person in feindseliger Absicht, nicht vorgelegen habe. Die behaupteten Belästigungen durch Herrn J. stellten einen solchen tätlichen Angriff nicht dar. Mit ihrem hiergegen erhobenen Widerspruch machte die Klägerin geltend, dass es sich bei den Belästigungen durch I. J. durchaus um tätliche Angriffe gehandelt habe. Am 12. November 2000 habe ihr J. in seiner Wohnung in Q. Tee angeboten. J. habe dem Tee offenbar Substanzen versetzt und sie in einen bewusstlosen Zustand versetzt. Sie sei erst am nächsten Morgen nur mit BH und Slip bekleidet aufgewacht. Dabei sei ihr Unterleib verklebt gewesen, und sie sei gefesselt gewesen. J. habe geäußert, er habe sie einfach nur in Ruhe anschauen und berühren wollen. Zugleich habe er sie mit einer Handwaffe bedroht. Sollte sie die Polizei einschalten oder sich anderen Personen anvertrauen, würde er Familienmitglieder von ihr töten. Am 27. Juli 2000 habe J. während einer Autofahrt von R. nach S. plötzlich seine Hand zwischen ihre Beine gelegt und sie unsittlich berührt. Sie sei daraufhin voller Schreck mit dem PKW auf einen Gehsteig gefahren. Am 4. Dezember 2000 habe ihr J. in dem Büro in T. plötzlich eine leere Spritze an den Hals gesetzt und ihr gedroht, er werde sie töten, wenn sie seine „grenzenlose Liebe“ nicht erwidere. Die Klägerin vertrat insoweit die Auffassung, dass sich die Schwere der Gewalttaten des J. deutlich daraus ergebe, dass sie als Folge unter einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung leide. Hierzu überreichte die Klägerin eine Bescheinigung der Psychologischen Psychotherapeutin U. vom 23. Juni 2005.

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Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Februar 2006 wies daraufhin der Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Die von der Klägerin nunmehr behaupteten Taten des J. seien nicht nachgewiesen, denn die gehörten Zeugen hätten hierzu nichts berichtet. Eine Strafanzeige habe sie nicht erstattet. Die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung lasse nicht den zwingenden Rückschluss auf das Vorliegen eines Tatbestandes im Sinne des § 1 OEG zu.

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Im nachfolgenden Klageverfahren vor dem Sozialgericht Braunschweig hat die Klägerin ihren Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG weiter verfolgt und dazu im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren wiederholt. Dazu hat sie weitere ärztliche Befundunterlagen zu den Akten gereicht. Das Sozialgericht hat ein Gutachten des Arztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. V. vom 13. Juni 2007 eingeholt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten eine chronische posttraumatische Belastungsstörung und eine rezidivierende depressive Störung diagnostiziert und außerdem den Verdacht auf eine hystrionische Persönlichkeitsstörung geäußert. Die chronische posttraumatische Belastungsstörung werde als Folge des Stalkings angesehen. Die rezidivierende depressive Störung sei überwiegend schicksalsbedingt, teilweise aber auch durch die Stalking-Verhaltensweisen mitverursacht. Der wahrscheinliche Grad der MdE allein infolge der posttraumatischen Belastungsstörung liege bei 30 v.H. Das Sozialgericht hat außerdem einen Befundbericht der Psychologischen Psychotherapeutin U. vom 12. Mai 2009 eingeholt. Der Beklagte hat mehrere beratungsärztliche Stellungnahmen zu den Akten gereicht.

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Mit Beschluss vom 31. März 2009 hat das Sozialgericht den Freistaat Thüringen und das Land Sachsen-Anhalt gemäß § 75 Abs. 2 SGG beigeladen.

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In der mündlichen Verhandlung am 30. September 2009 hat das Sozialgericht die Klägerin persönlich angehört. Dabei hat diese u.a. angegeben, dass I. W. sie einmal angerufen und gedroht habe, dass er sich Luft spritzen werde. Er habe sie dann auch einmal unter einem Vorwand in seine Wohnung gelockt. Dort hätten sie Kaffee oder Tee getrunken und sie könne sich noch daran erinnern, erst nach Stunden wieder aufgewacht zu sein und nicht viel angehabt zu haben. Später habe er ihr auch Bilder von ihr gezeigt und gedroht, er werde diese Bilder veröffentlichen, falls sie etwas sagen würde. Auf einer Autofahrt nach S. sei sie Fahrerin und er sei Beifahrer gewesen. Als sie kurz vor S. gewesen seien, habe er seine Hand zwischen ihre Beine gelegt. Sie sei dadurch so überrascht gewesen, dass der Wagen ins Schlingern geraten sei. In seiner Wohnung habe J. sie einmal mit einer Pistole bedroht, die er aus seinem Schrank genommen habe. Er habe auch gesagt, er habe eine ganze Menge Patronen. Einige Tage später habe er auch eine Patrone an ihre Kaffeetasse gelegt.

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Das Sozialgericht hat sodann die Klage mit Urteil vom 30. September 2009 abgewiesen. In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, dass der Klägerin ein Anspruch auf Versorgung nach dem OEG weder gegen den Beklagten noch gegen den Beigeladenen zu 1. oder den Beigeladenen zu 2. zustehe. Denn der gerichtlichen Entscheidung könne nicht zugrunde gelegt werden, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG geworden sei. Die drei von der Klägerin geschilderten Vorfälle am 12./13. November, am 27. Juli und am 4. Dezember 2000 seien nicht bewiesen. Es seien keine Beweismittel vorhanden, die die Angaben der Klägerin stützen könnten. Die Klägerin habe die insoweit behaupteten tätlichen Angriffe auch nicht gemäß § 15 KOVVerfG glaubhaft gemacht. Hinsichtlich des 12./13. Novembers 2000 sei diese Beweiserleichterung bereits nicht anwendbar, weil die Klägerin lediglich Vermutungen geäußert nicht aber Angaben aus eigenem Wissen gemacht habe. Im Übrigen seien die Angaben der Klägerin zu den genannten Ereignissen deshalb nicht glaubhaft, weil sie sich insoweit gegenüber dem Beklagten, dem Sachverständigen Dr. V. und in der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht unterschiedlich geäußert habe. Das Vorbringen der Klägerin werde auch weder durch das Gutachten des Sachverständigen Dr. V. noch durch die sonstigen medizinischen Befunde bewiesen oder glaubhaft gemacht. Insbesondere könne daraus nicht der zwingende Schluss auf einen sexuellen Missbrauch hergeleitet werden. Die Klägerin habe auch nicht glaubhaft gemacht, während der Autofahrt am 27. Juli 2000 Opfer eines tätlichen Angriffs geworden zu sein. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass grobe Zudringlichkeiten noch keine sexuellen Handlungen darstellten und daher für sich genommen noch nicht strafbar seien. Das sonstige Verhalten des I. J. könne nicht als tätlicher Angriff gewertet werden. Soweit er die Klägerin über einen Zeitraum von mehreren Monaten massiv belästigt und unter Druck gesetzt habe, werde dies zwar durch die schriftlichen Zeugenaussagen und seine eigenen Schreiben gestützt. Dieses Verhalten stelle jedoch keinen tätlichen Angriff dar. Ob insoweit der Tatbestand der Nachstellung im Sinne des § 238 StGB erfüllt werde, könne dahinstehen, denn dieser Straftatbestand sei erst am 31. März 2007 in Kraft getreten und ein tätlicher Angriff setze ein im Zeitpunkt der Begehung strafbares Verhalten voraus.

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Die Klägerin hat gegen das ihr am 13. Oktober 2009 zugestellte Urteil am 4. November 2009 Berufung eingelegt. Sie macht weiter Ansprüche auf Versorgung nach dem OEG geltend und wiederholt und vertieft insoweit ihr erstinstanzliches Vorbringen. Insbesondere weist sie darauf hin, dass ihre Kinder Zeugen tätlicher Angriffe des I. J. gewesen seien, und dass sogenanntes Stalking auch vor Inkrafttreten des § 238 StGB einen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG darstellen könne.

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Die Klägerin beantragt,

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1. das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 30. September 2009 und den Bescheid des Beklagten vom 5. September 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 2006 aufzuheben,

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2. den Beklagten zu verurteilen, Schädigungsfolgen in Form von psychischen Beeinträchtigungen anzuerkennen und ihr ab 1. Mai 2005 Beschädigtenversorgung nach einem GdS von mindestens 30 zu gewähren,

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hilfsweise,
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den Beigeladenen zu 1. zu verurteilen, ihr ab 1. Mai 2005 Beschädigtenversorgung nach einem GdS von mindestens 30 zu gewähren,

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weiter hilfsweise,
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den Beigeladenen zu 2. zu verurteilen, ihr ab 1. Mai 2005 Beschädigtenversorgung nach einem GdS von mindestens 30 zu gewähren.

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Der Beklagte beantragt,

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die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 30. September 2009 zurückzuweisen.

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Er hält das angefochtene Urteil ebenso wie der Beigeladene zu 2. für zutreffend.

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Der Beigeladene zu 1. hat sich im Berufungsverfahren nicht geäußert.

22

Dem Senat haben außer den Prozessakten die Verwaltungsakten des Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe
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Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und auch im Übrigen zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

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Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide des Beklagten sind nicht rechtswidrig. Der Klägerin steht auch nach Auffassung des erkennenden Senats gegen den Beklagten ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach § 1 OEG in Verbindung mit den Vorschriften des BVG nicht zu. Ein solcher Anspruch besteht auch nicht gegenüber den Beigeladenen.

25

Nach § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG, wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der der erkennende Senat folgt, ist als tätlicher Angriff in diesem Sinne grundsätzlich eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung anzusehen, wobei in aller Regel die Angriffshandlung den Tatbestand einer – jedenfalls versuchten – vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit erfüllt (Urteil vom 29. April 2010, Az.: B 9 VG 1/09 R mit zahlreichen Nachweisen).

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Das Sozialgericht ist unter zutreffender Würdigung der im Verwaltungsverfahren und im ersten Rechtszug durchgeführten Beweisaufnahme zu Recht zu dem Ergebnis gekommen, dass bezüglich des von der Klägerin behaupteten Verhaltens des I. J. ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG weder nachgewiesen noch nach den Angaben der Klägerin glaubhaft gemacht ist. Um Wiederholungen zu vermeiden, nimmt der erkennende Senat gemäß § 153 Abs. 2 SGG auf die ihm in allen Punkten zutreffend erscheinenden Ausführungen des Sozialgerichts auf den Seiten 6 – 11 der Entscheidungsgründe des erstinstanzlichen Urteils Bezug.

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Lediglich ergänzend und im Hinblick auf das weitere Vorbringen der Klägerin im Berufungsverfahren ist auf folgendes hinzuweisen:

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Die drei von der Klägerin erstmals im Widerspruchsverfahren vorgetragenen Ereignisse am 12./13. November 2000 (Versetzen in bewusstlosen Zustand), 27. Juli 2000 (Autofahrt nach S.) und 4. Dezember 2000 (Setzen einer Spritze an den Hals) sind auch zur Überzeugung des erkennenden Senats nicht nachgewiesen. Zeugen für diese Ereignisse sind nicht vorhanden. Allein auf die diesbezüglichen Angaben der Klägerin kann eine sichere Überzeugungsbildung nicht gestützt werden, weil diese im Laufe des Rechtsstreits inhaltlich unterschiedlich, teilweise auf eine bloße Vermutung gestützt und im Allgemeinen eher diffus gewesen sind. So hat die Klägerin keines dieser Ereignisse bei der Stellung ihres Antrages auf Beschädigtenversorgung nach dem OEG angegeben. Ihre persönlichen Angaben bei ihrer Anhörung im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht Braunschweig am 30. September 2009 weichen wiederum inhaltlich von dem ab, was ihre Prozessbevollmächtigten im Widerspruchsverfahren sowie im anhängigen Gerichtsverfahren vorgetragen haben. Ist z.B. vorgetragen worden, dass die Klägerin am Morgen des 13. November 2000 gefesselt aufgewacht und mit einer Handwaffe bedroht worden sei, so hat die Klägerin selbst hiervon gegenüber dem Sozialgericht nichts erwähnt und im Übrigen insoweit ausweislich Seite 43 des Sachverständigengutachtens vom 13. Juni 2007 auch nichts gegenüber dem Sachverständigen Dr. V. gesagt. Auch den Vortrag ihrer Prozessbevollmächtigten, J. habe ihr am 4. Dezember 2000 im Büro in T. eine leere Spritze an den Hals gesetzt und gedroht, er werde sie töten, sollte seine Liebe nicht erwidert werden, hat die Klägerin selbst nicht bestätigt. Gegenüber dem Sachverständigen Dr. V. hat sie hiervon nichts gesagt, und vor dem Sozialgericht hat sie angegeben, J. habe gedroht, sich Luft zu spritzen. Soweit die Klägerin gegenüber dem Sozialgericht in der mündlichen Verhandlung angegeben hat, sie sei einmal von J. in dessen Wohnung in Q. mit einer Pistole bedroht worden, und einige Tage später habe J. auch eine Patrone neben ihre Kaffeetasse gelegt, bleiben diese ebenfalls nicht durch objektive Beweismittel belegten Behauptungen zu unbestimmt, als dass hieraus der Beweis für einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff hergeleitet werden könnte.

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Ein Beweis für die behaupteten traumatisierenden Ereignisse ist auch nicht dadurch geführt worden, dass der Sachverständige Dr. V. und die Psychologische Psychotherapeutin U. u.a. die Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne der Nr. F 43.1 der ICD-10 erhoben haben. Zwar setzt diese Diagnose definitionsgemäß das Vorliegen eines als Ursache der Störung in Betracht kommenden Traumas voraus. Aus der Tatsache der Stellung einer solchen Diagnose lässt sich aber nur der Schluss ziehen, dass der die Diagnose stellende Arzt vom Vorliegen eines solchen Traumas ausgegangen ist. Das Vorliegen des Traumas selbst beweist die Diagnosestellung hingegen nicht. Ergibt sich im Übrigen – wie typischerweise –, dass der Stellung der Diagnose allein die als plausibel gewertete Schilderung der Vorgeschichte der Klägerin zugrunde liegt, so entfaltet die Diagnosestellung allenfalls dieselbe Beweiswirkung wie die im vorliegenden Rechtsstreit aufgestellte Behauptung des Traumas durch die Klägerin (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z.B. Beschlüsse vom 2. Juni 2009, Az.: L 10 VG 3/06 und vom 11. Juni 2009, Az.: L 10 VG 1/08 sowie Urteil vom 22. Juli 2010, Az.: L 10 VG 21/07; vgl. auch Urteil des 13. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 5. Juni 2008, Az.: L 13 VG 1/05).

30

Die Angaben der Klägerin zu den aufgeführten drei Ereignissen sind aufgrund der vorgenannten Umstände, insbesondere des nicht konstanten, sondern unterschiedlichen Aussageverhaltens auch nicht in einer Weise als glaubhaft anzusehen, dass sie in Anwendung von § 15 KOVVerfG in Verbindung mit § 6 Abs. 3 OEG der Entscheidung zugrunde gelegt werden könnten. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die Beweiserleichterung nach § 15 KOVVerfG auf das Ereignis vom 12./13. November 2000 überhaupt anwendbar ist, weil die Klägerin hinsichtlich einer Betäubung durch I. J. lediglich Vermutungen geäußert hat.

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Das übrige Verhalten des I. J., das die Klägerin als eine über Monate gehende Folge von Belästigungen geschildert hat, und das durch die zeugenschaftlichen Angaben ihrer Kinder und ihrer früheren Mitarbeiterin O. sowie die vorgelegten Schreiben des J. jedenfalls teilweise belegt worden sind, vermögen einen vorsätzlichen, tätlichen Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG nicht auszumachen. Eine in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper der Klägerin zielende gewaltsame Einwirkung ist insoweit nicht zu erkennen. Dies gilt auch für die von den Kindern der Klägerin bekundeten Berührungen durch J., etwa das gegen den Willen der Klägerin erfolgte In-den-Arm-Nehmen. Der Senat geht dabei durchaus davon aus, dass die Klägerin diese Handlungen J. s als unangenehme Beeinträchtigungen empfunden hat. Strafrechtlich relevante, gewaltsame Einwirkungen in feindseliger Willensrichtung sind darin jedoch nicht zu erblicken. Insbesondere darf in diesem Zusammenhang nicht unberücksichtigt bleiben, dass J. der Klägerin nicht in feindlicher Absicht sondern vielmehr im Rahmen eines unerhört gebliebenen Liebeswerbens nahe zu kommen versucht hat. Soweit dieses Verhalten den Tatbestand der Nachstellung gemäß § 238 StGB erfüllen könnte, kann im Ergebnis dahingestellt bleiben, ob dieser Umstand einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG bedeuten könnte, wie dies der 12. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen in seinem Urteil vom 18. März 2010 angenommen hat (Az.: L 12 VG 2/06). § 238 StGB ist erst mit Wirkung vom 31. März 2007 in Kraft getreten. Wegen des verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbots in Art. 103 Abs. 2 GG kann erst eine ab dem 31. März 2007 begangene Tat der Nachstellung nach § 238 StGB strafrechtlich geahndet werden. Die hier in Rede stehenden Belästigungen der Klägerin durch I. J. mögen zwar zum Teil den Tatbestand des § 238 StGB erfüllen, sie haben sich jedoch bereits in den Jahren 2000 und 2001 ereignet und sind deshalb einer strafrechtlichen Ahndung nicht zugänglich. Da sie – wie ausgeführt – nicht im Übrigen den Tatbestand einer vorsätzlichen Straftat gegen das Leben oder die körperliche Unversehrtheit der Klägerin erfüllen, kommt ein rechtswidriger, d. h. ein gegen die Rechtsordnung verstoßender, tätlicher Angriff im Sinne von § 238 StGB erst ab Inkrafttreten dieser Norm in Betracht. Mag auch das Verhalten des J. bereits seinerzeit im allgemeinen Ansehen der Gesellschaft moralisch geächtet gewesen sein, so verstieß es aber noch nicht gegen geltendes Recht. Der gegenteiligen, nicht näher begründeten Auffassung des 12. Senats des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen in dem Urteil vom 18. März 2010 (a.a.O.), wonach die Verwirklichung des Tatbestandes zu § 238 StGB auch bereits vor dessen Inkrafttreten einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG bedeuten kann, vermag sich der erkennende Senat deshalb nicht anzuschließen. Einer ergänzenden zeugenschaftlichen Vernehmung der Kinder der Klägerin, wie mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 15. Oktober 2010 beantragt, bedurfte es deshalb nicht. Die in ihr Wissen gestellten Wahrnehmungen, die bereits aus ihren schriftlichen Angaben von Juni 2005 hervorgehen, ergeben aus den vorgenannten Erwägungen gerade keinen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG.

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Das weitere Vorbringen der Klägerin, J. sei mit einem Zweitschlüssel in ihre Wohnung eingedrungen und habe dort Unterwäsche mitgenommen, um später am Telefon zu sagen, dass er sich sexuell befriedige, indem er daran rieche, mag zwar den Straftatbestand eines besonders schweren Falls des Diebstahls (§ 243 StGB ) erfüllen, bedeutet aber keinen tätlichen Angriff auf die körperliche Unversehrtheit der Klägerin, so dass insoweit der Schutzbereich des § 1 OEG nicht berührt ist.

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Kommt damit insgesamt mangels Vorliegens eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG ein Anspruch auf Beschädigtenversorgung nicht in Betracht, so brauchte sich der Senat nicht mit der Frage zu beschäftigen, welches beteiligte Bundesland nach Maßgabe von § 4 Abs. 1 OEG zur Gewährung einer Versorgung verpflichtet ist.

34

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

35

Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegt nicht vor.

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